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Interview: Johann Scheerer über die Entführung seines Vaters und ungewollte Berührungsängste


Johann Scheerer Clouds Hill
© Stefan Schmid

Johann, seit Wochen sprichst du über ein Thema, über das du zuvor nie gesprochen hast: Die Entführung deines Vaters Jan Phillip Reemtsma, der 1996 nach 33 Tagen und gegen ein Lösegeld von 30 Millionen D-Mark wieder freigelassen wurde. Siehst du diese Zeit nun mit anderen Augen?

Ich habe das Buch nicht geschrieben, um selbst einen anderen Blick auf diese Ereignisse zu bekommen. Ich wollte die Sicht der Menschen, mit denen ich zu tun habe, verändern. Ich möchte eine Situation herstellen, in der diese Entführung ebenso besprechbar ist wie alles andere, was man halt so bespricht. Es soll einfach vorkommen dürfen, dass man mit mir darüber redet. Ohne Berührungsängste.


Und die gab es?

Ja. Mich hat mit ganz wenigen Ausnahmen niemand je auf diese Geschichte angesprochen. Alle wussten davon, keiner sprach mit mir darüber. Das ändert sich durch das Buch. Indem ich die Geschichte von diesem Verbrechen teile, gebe ich den Menschen die Gelegenheit, subjektive Anknüpfungspunkte zu finden. Das entmystifiziert diese Sache. Und während ich zum ersten Mal intensiv und in der Öffentlichkeit darüber spreche, merke ich, dass das Gleiche bei mir passiert: Auch mir fällt es leichter, darüber zu sprechen. Es passiert tatsächlich das, was ich mir erhofft habe: Ich bekomme eine ganz angenehme Distanz zu der Geschichte. Wobei, stimmt nicht, beim Vorlesen des Buches gehen mir manche Passagen weiterhin wahnsinnig an die Nieren. Aber genau das will ich. Ich will da rein und den kathartischen Prozess durchleben.


Haben Sie aus diesem Grund die Hörbuchfassung selbst eingelesen?

Ich wollte anfangs gar kein Hörbuch machen, war sehr skeptisch. Ich habe es dennoch angefangen, als Versuch, den ich auch wieder abbrechen kann. Nach ein paar Seiten war ich aber so drin und habe das Ganze noch mal als ganz andere Art der Katharsis empfunden. Dazu gehörte dann auch, dass ich mich noch tiefer in den Text hineinbegeben habe, indem ich zum Beispiel den Sound der Erpresseranrufe nachmache, die wir damals nachts erhalten haben. Ich konnte die gar nicht anders vortragen als so, wie ich sie in Erinnerung habe.


Einen dieser Anrufe haben Sie als 13-Jähriger mitten in der Nacht heimlich mitverfolgt, eine Szene wie aus einem Albtraum.

Ich kann bis heute kein Babyfon neben meinem Bett haben, weil mich die Geräusche an die nächtlichen hochgepitchten und kaum verständlichen Anrufe der Entführer erinnern.


Wie präsent war das Verbrechen in Ihrem Leben, bevor Sie das Buch veröffentlicht haben?

Es gab tausend kleine Situationen, in denen es präsent war. Das fing in der Schulzeit an, als ich nach der Entführung genau deswegen von älteren Schülern gemobbt wurde. Andere haben mich mit so großer Distanz behandelt, als käme ich gerade aus einer Leprahöhle und wäre ansteckend. Vor allem aber hatte ich nicht die Möglichkeit, ein anonymes Leben zu führen. Obwohl ich ja nicht mal den Nachnamen meines Vaters trage.


Haben Sie die Menschen mal gefragt, warum sie mit Ihnen darüber nicht sprechen können?

Das habe ich mich leider nie getraut, weil ich vor der Reaktion Angst hatte. Wenn man schon den Namen nicht aussprechen kann...


Normalerweise sollte doch ein 13-jähriger Junge, der so eine Erfahrung gemacht hat, von allen Seiten aufgefangen und umarmt werden. Wie erklären Sie sich die Reaktionen?

Ich weiß das nicht, ich kann nur spekulieren. Vielleicht liegt es daran, dass bei der Entführung meines Vaters die Loyalitäten nicht so eindeutig waren. Beim Gladbecker Geiseldrama zum Beispiel fiel die Identifizierung viel leichter als in unserem Fall: Ein 14-Jähriger und eine 18-Jährige wurden von durchgeknallten Tätern erschossen. Die Entführer meines Vaters hingegen haben später von der „Luxusvariante einer Entführung“ geredet, weil sie meinen Vater lebend freigelassen haben. Und es ging um eine unvorstellbare Summe Geld, die dann auch noch gezahlt wurde, weil meine Familie dieses Geld wirklich hatte. Mitleid zu entwickeln ist hier viel schwieriger. Und das ist eben das Wunderbare an diesem Buch: Seit ich darüber rede und es gelesen wird, gibt es endlich auch gute Reaktionen.


Zum Beispiel?

Mir hat nach einer Lesung eine mir unbekannte Frau erzählt, dass sie am Tag der Freilassung meines Vaters im Flugzeug von Mallorca nach Hamburg saß. Der Pilot berichtete von den Ereignissen – und alle Passagiere applaudierten, als sie vom guten Ausgang erfuhren. Bei dem Gedanken daran bekomme ich eine Gänsehaut, für mich ist das alles neu.


Während der Entführung gab es eine Nachrichtensperre, alle Medien hielten sich daran.

Ja, das änderte sich dann nach der Freilassung. Es gab eine gigantische Öffentlichkeit mit Titelseiten in der Bild-Zeitung oder im Spiegel und Journalisten, die unser Haus belagerten. Das hat dazu geführt, dass ich das Ende der Entführung gar nicht als erlösend wahrgenommen hatte. Sondern dass die Distanz zwischen mir und der Welt so groß blieb wie während dieser 33 Tage.


Für Außenstehende klingen die 33 Tage der Entführung wie eine fürchterliche Zeit für Sie und Ihre Mutter. In Ihrem Buch kommen aber auch humoristische Aspekte vor – wie zum Beispiel die Unfähigkeit der Polizei, eine gleichaussehende Dublette des Autos Ihres Vaters herzustellen, das als Geldübergabefahrzeug dienen sollte. Ist diese Humorebene der Geschichte neu für Sie?

Humor ist etwas, das sich schon immer durch unsere Familie zieht. Mein Vater hat ihn in seinen Briefen, die er während der Entführung an uns geschrieben hat, benutzt, um eine Verbindung zu uns herzustellen. Um einen Ton zu finden, der mir, seinem 13 Jahre alten Sohn zeigt, dass es ihm den Umständen entsprechend gut geht. Gleichzeitig erlebten wir als Angehörige im Haus in diesen 33 Tagen einige absurde Momente zwischen Lagerkoller, totaler Übermüdung und Verzweiflung.


Was zum Beispiel war absurd?

Einer der Angehörigenbetreuer war der Polizist, der Anfang der 90er-Jahre den Kaufhauserpresser Dagobert festgenommen hatte. Auf der Jagd nach ihm war er auf einer Bananenschale ausgerutscht, deshalb ist er ihm erst mal entwischt. Das erzählte er uns am Küchentisch, während das Leben meines entführten Vaters maßgeblich von diesen Polizisten abhängig war. Das hätte uns verzweifeln lassen sollen, denn wir brauchten Leute, die wussten, was sie tun. Und dann kommt auf einmal raus, dass das Leute sind, die auf einer Bananenschale ausrutschen, wenn sie einen Bankräuber fangen sollen. Klar, auch die Dublette des Autos, die nicht mal dieselbe Farbe wie der Volvo meines Vaters hatte, besitzt im Nachhinein ein riesiges Gag-Potenzial. Ich merke das jetzt bei den Lesungen. Es gibt aber nur einige wenige bestimmte Momente, in denen wir in der Familie darüber lachen können. Und meine Mutter und ich können das auf eine andere Art als mein Vater es kann.


Inwiefern?

Für meinen Vater ist es sehr schwer vorstellbar, dass es in der Situation niemand hinbekommen hat, ein Auto so zu präparieren, dass es seinem ähnlich sieht und das dabei hilft, ihn zu retten. Warum hat das nicht geklappt, hatten sich die Verantwortlichen keine Mühe gegeben oder waren sie einfach zu unprofessionell, das Richtige zu tun? Die absurd-komische Komponente ist für meinen Vater viel schwieriger nachvollziehbar. Er kann zwar auf seine Art reflektiert darüber sprechen, ist aber auf der anderen Seite das Opfer in dieser Geschichte.

Johann Scheerer Clouds Hill
© Stefan Schmid

Sie benutzen den Begriff „Opfer“. Ihr Vater hat schon kurz nach der Entführung ein Buch verfasst und schreibt in „Im Keller“ in der dritten Person über seine Gefangenschaft. Er wollte sich also gerade nicht persönlich als Opfer sehen, oder?

Das stimmt. Ich tue mich auch sehr schwer mit dem Wort. In den vergangenen Tagen habe ich zum Beispiel bei Lesungen immer wieder einen Satz ausprobiert: „Ich bin Opfer eines Verbrechens.“ Das fühlt sich gar nicht gut an, so auf der Bühne zu sitzen. Die Opferrolle ist sehr passiv und unsouverän. Darüber zu sprechen, ist also auch eine Art aktiver Aneignung des Ganzen, und der Versuch, die Souveränität wiederzuerlangen.


Sie waren während dieser 33 Tage nicht in der Schule, haben aber eine Gitarre und einen Verstärker bekommen und bestimmte CDs rauf und runter gehört. Wie wichtig war damals Musik für Sie?

Ich hätte gerne ein Bekenntnis wie „Music saved my life“ vorne ins Buch geschrieben. Das hätte eine gute Story gegeben: Johann Scheerer wird Musikproduzent, weil die Musik sein Leben gerettet hat. Aber so war es einfach nicht. Die Wahrheit ist: Musik war ein Vehikel, um der Langeweile zu entkommen und mich abzulenken, genauso wie die Sit-ups, die ich im Badezimmer gemacht habe. Falsch ausgeführte Sportübungen, die verkrampften Versuche, Green Day oder Die Ärzte auf der Gitarre nachzuspielen und Musiktexte auswendig zu lernen – all das diente nur dazu, Zeit totzuschlagen, ohne einen Nutzen für den Rest meines Lebens. Daraus ist nichts Schönes entstanden. Es ist ein Irrglaube, dass man eine solche Zeit produktiv nutzen kann.


Während der Entführung durchlebten Sie ein echtes Dilemma. Ihr Vater hatte Ihnen aus der Gefangenschaft geschrieben, dass Sie und er jeden Tag parallel um Punkt 17 Uhr den jeweiligen Tag in der „Chronik des 20. Jahrhunderts“ nachschlagen sollten, um eine Verbindung zwischen Ihnen zu schaffen. Sie konnten das nicht. Warum?

Ich sollte auch ein Lied der Band Die Ärzte für ihn spielen, ein Song namens „Langweilig“.


Da ist er wieder, der Humor.

Ja, aber auch das habe ich nicht gemacht. (überlegt) Ich habe mich neulich mit der Astronautin Insa Thiele-Eich unterhalten, deren Vater ja ebenfalls Astronaut war. Sie wurde manchmal, während er im Weltall war, aus der Schule geholt, um mit ihm sprechen zu können, weil sich da gerade ein Fenster der Kommunikation ergab. Per Funk, mit 40 Sekunden Verzögerung. Sie sagte mir, dass sie überhaupt nicht gewusst hätte, worüber sie dann mit ihm hätte sprechen sollen. Ihr war es eher egal, was er da gerade im All machte – weil sie eben eine Jugendliche war.


Und so ging es auch Ihnen?

Ich konnte als 13-Jähriger die Erwartungen meines Vaters einfach nicht erfüllen. Das ist in dem Alter sehr gesund und geht in Ordnung, jedoch hatte ich ein wahnsinnig großes Schuldgefühl deswegen. Dass ich weder in der Chronik gelesen noch das Lied auf der Gitarre gelernt hatte, besaß in meinen Augen das Potenzial, existenziell zerstörerisch für die Beziehung zwischen mir und meinem Vater zu sein. Denn was, wenn er mich nach seiner potenziellen Freilassung gefragt hätte, warum ich ihm seinen vielleicht letzten Wunsch nicht erfüllt hätte?


13 Jahre alt zu sein, ist für ein solches Geschehen sicherlich das denkbar schlechteste Alter, oder?

Man ist noch Kind, will aber gleichzeitig erwachsen sein. Und die Erwachsenen sehen einen genauso. Sie trauten mir schon etwas zu, wollten mich aber gleichzeitig schützen. Ich konnte in dieser Situation als Sohn nichts bewirken, und wenn doch, konnte ich nicht einschätzen, wie relevant das ist. Im Buch beschreibe ich, wie ich einen Flyer einer Demonstration finde und den Polizisten gebe, weil ich dachte, dass es dort vielleicht Straßensperren geben würde, die eine eventuelle Lösegeldübergabe behindern könnten. Die Polizisten nahmen den Hinweis ernst, einer telefonierte direkt mit einem Kollegen und unterrichtete ihn davon.


Sie schreiben im Buch davon, wie Ihre Mutter nach einer missglückten Geldübergabe sehr verzweifelt ist – und wie sie nach der letztlich gelungenen Übergabe voller Hoffnung ist. Sie wirkten damals von diesen Gefühlen sehr irritiert. Warum?

Das Problem mit diesen Gefühlen war, dass wir vorher die ganze Zeit versucht hatten, diese zu unterdrücken. Diese 33 Tage waren davon geprägt, dass meine Mutter alles im Griff hatte, eben auch ihre Gefühle. Als die Geldübergabe dann geklappt hatte und meine Mutter sich darüber freute, habe ich etwas ganz anderes gedacht. Mit den 30 Millionen war für mich unser letztes Argument verschwunden, dass wir meinen Vater lebend wiedersehen würden. Die Entführer hatten ja bekommen, was sie wollten – warum sollten sie ihn nun nicht einfach umbringen? Mir schien es unlogisch zu sein, mit diesem Ereignis Hoffnung zu verbinden.


Ihr Mutter und Sie hatten eine „stumme Vereinbarung“, einander nicht zur Last zu fallen. Wie kam das zustande?

Ich habe einfach ihre Verhaltensweisen gespiegelt und gewusst, dass man sich so verhalten muss. Das war genau richtig. Wäre meine Mutter sofort in Panik geraten, wäre ich das wahrscheinlich auch. Als Kind schaut man sehr auf das Verhalten der Eltern, das kennt man von Spielplätzen, wenn die Kinder hinfallen, dann weinen sie oft erst, wenn Mutter oder Vater besorgt und ängstlich auf die kleine Schürfwunde am Knie reagieren. Dass meine Mutter in der Lage war, mit der Situation von Anfang an souverän umzugehen – das war einfach ein wahnsinniges Glück im Unglück.


 

Zur Person

Als dieses Interview Anfang Januar 2021 stattfindet, veröffentlicht Johann Scheerer, geboren am 6.11.1982 in Henstedt-Ulzburg, gerade sein Buch Wir sind dann wohl die Angehörigen: Die Geschichte einer Entführung. Darin erzählt er von der Entführung seines Vaters, dem Publizisten Jan Philipp Reemtsma. Johann Scheerer lebt heute mit seiner Frau und drei Kindern in Hamburg, wo er das Studio „Clouds Hill Recordings“ betreibt.


Clouds Hill Recordings

Mit 15 Jahren gründet Johann Scheerer seine erste Band, im Jahr 2003 sein erstes Tonstudio. Heute produziert er in seinem „Clouds Hill Recordings“ in Hamburg unter anderem Musik von Pete Doherty, Rocko Schamoni oder At The Drive-In, die er teilweise auch auf seinem eigenen Label veröffentlicht. Das hochwertige Equipment und die besondere Atmosphäre in seinem Studio schätzen auch Kunden wie die Beach Boys oder The Killers.

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