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Redaktion

Interview: Paul Ivić über den emotionalen Wert von Lebensmitteln


© Ingo Pertramer

Paul, du hast in einem anderen Interview den bemerkenswerten Satz „Das Schulessen hat mich beleidigt“ gesagt. Das ist eine sehr frühe und sehr dezidierte Meinung über das Thema Essen, wie kam es dazu?

Essen war im Rückspiegel betrachtet und ist für mich immer noch eines der emotional wichtigsten Mittel für mich. Ich kann mich noch erinnern, dass es mich als Kind schon in der Früh gestresst hat, wenn ich nicht wusste, was es mittags zu essen gibt. Und vor allem nicht: wer kocht! Wenn mein Vater gekocht hat, war mein Tag schon morgens versaut. Das Gleiche galt für die Tage, an denen ich in der Schule gegessen habe. Wenn meine Mutter gekocht hat, wusste ich, dass es etwas gibt, das mir schmeckt. Ich habe es bei ihr immer so empfunden, dass sie für mich kocht – obwohl wir natürlich drei Kinder waren. Ich habe allerdings erst viel später verstanden, wie wichtig das für mich war, dafür musste ich erst 32 Jahre alt werden.

 

Was hat dich am Schulessen so gestört?

In der Schule hat es mich immer gestresst, dass das Essen grottenschlecht ausgesehen hat, dass es lieblos angerichtet und nur auf den Teller geklatscht wurde. Und es war zu 90 Prozent geschmacklich eine Qual. Das war für mich und meine kindliche Seele eine Kränkung. Der Wert von gutem Essen war für mich die Fürsorge, dass sich jemand um mich kümmert, mich jemand liebt oder mag. Das Gefühl habe ich beim Schulessen nicht gehabt, und deswegen regt es mich heute noch auf, wenn ich teilweise Schulessen sehe, das industriell gefertigt worden ist und lieblos und vor allem leblos auf dem Teller liegt. Das ist nicht einmal mehr Nahrungsaufnahme, denn da sind keine Nährstoffe mehr enthalten. Das ist auf Deutsch gesagt nur noch „Friss oder stirb!“.

 

Wie erinnerst du dich im Gegensatz dazu an gutes Essen? Und was macht das für dich aus?

Gutes Essen hat immer ein emotionales Element. Essen ist immer eine Form von Gemeinschaft. Ich habe als Kind nie allein gegessen, das war einfach etwas Schönes, etwas Wunderbares, und ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen. Meine Eltern haben viel gearbeitet, also zwischen 12, 14 und manchmal 16 Stunden am Tag, und trotzdem haben sie sich diese Zeit genommen für uns Kinder. Meine Großeltern hatten auch nicht viel Geld, aber wir waren immer reich an Nahrungsmitteln, an echten Lebensmitteln. Zum Beispiel Fleisch als Selbstversorger: Man hat mitbekommen, wie eine Kuh geschlachtet wird, um die man sich vorher aber 10 bis 15 Jahre gekümmert hat, sogar noch am Tag der Schlachtung. In Kroatien hatten wir einen Garten, so hatten wir eigentlich alles zur Verfügung, es wurde nie gespart und der Tisch war immer voll. Dieser Akt der Wertschätzung ist eine Form der Selbstliebe, das war großartig. Wir haben einfach gekocht, das hat mit der Küche, wie ich sie heute betreibe, optisch und technisch nichts gemein – bis auf einen Punkt: die Sehnsucht nach dem Geschmack der Kindheit. Das Ausgangsprodukt muss passen, und das sehe ich nach wie vor als das größte Geschenk, das meine Eltern uns mitgegeben haben.

 

Wenn du sagst, dass der Tisch immer voll war – das könnte man heute auch hinbekommen, indem man viel Geld in den Supermarkt trägt und blind alles kauft.

Meine Freunde waren immer über die Großzügigkeit in Kroatien überrascht, weil die gesehen haben, dass da nicht viel Geld hintersteckte. Es wurde geteilt, was man hatte. In der Tiroler Kultur, also meiner mütterlichen Seite der Familie, war der Tisch zum Beispiel nie so reichlich gedeckt. Das waren zwei Welten: Auf der kroatischen Seite war es eine Beleidigung, wenn du nichts angenommen hast. In Tirol war es „Ah so, nein, bitte kein Aufwand!“. Aber beide Seiten haben den Wert der Lebensmittel gesehen, vielleicht weil sie aus Bauernfamilien stammen und selbst geerntet haben. Aktuell ist „no waste“ so ein Modewort – das war früher Usus, du hättest es dir nicht leisten können, etwas leichtfertig wegzuwerfen. Ein „abgelaufener“ Joghurt ist bei uns noch nach zwei oder drei Wochen gegessen worden. Man hat geschaut, ob etwas schlecht geworden ist, aber du hast nie direkt das ganze Lebensmittel weggeworfen. Was übriggeblieben ist, kam in den Kühlschrank und wurde am nächsten Tag wieder genutzt, also ganz klassische Resteverwertung – das war normal. Ich empfinde das auch als etwas Schönes und Erstrebenswertes, denn es fordert deine Kreativität als Koch.

 

Auch heute noch?

Ja, das sind heute noch die Parameter für meinen Beruf, die habe ich komplett verinnerlicht. Wir schauen, dass wir keine Lebensmittelverschwendung betreiben. Wir sind immer auf der Suche nach der besten Qualität und wir stellen uns die Frage, wie man an diese kommt. Da geht es dann sehr viel über biologische Lebensmittel, weil die beste Qualität beginnt bei gesundem Böden, bei einem nährstoffreifen Boden. Da sind wir auch schon bei dem Thema, das aktuell ganz, ganz groß ist: bei der Veränderung des Klimas. Da könnten wir auch durch unser Essverhalten viel Positives gestalten, ohne dass wir verzichten, und es schmeckt sogar noch besser. 


© Ingo Pertramer

Wenn du sagst, dass dich früher das Schulessen beleidigt hat, beleidigt dich heutzutage ein Gang durch den Supermarkt? Industriell gefertigte Lebensmittel, die hochverarbeitet sind und die potenziell eher krank als satt und zufrieden machen?

Ich weiß nicht, wie die Supermärkte in Deutschland sind, aber wir haben in Österreich schon Supermärkte, die teilweise hervorragende Qualität haben. Man merkt es nicht nur am Preisunterschied, man merkt auch die Qualität. Das Angebot ist schon breit gefächert. Und der Trend schreitet voran, die Bio-Produkte sind in teilweise hervorragender Qualität, und auch die Regionalität wird mit einbezogen.

 

Wie muss ich mir in Österreich den typischen Konsumenten vorstellen? Fordert er diese Qualität mehrheitlich so ein?

Der Großteil der Konsumenten ist weiterhin schwach belesen und hat keine Ahnung, sonst würden sie auf das ganze industrielle Zeug verzichten. Aber die Ausrede der Industrie immer: Der Konsument entscheidet. Das stimmt nicht. Der Konsument würde entscheiden, wenn er besser informiert wäre. Aber der Konsument wird permanent in die Irre geführt. Da gibt’s dann eine super Marketingabteilung, da gibt’s das Label „mit Vitamin C“ oder „mit extra Protein“ und schon soll etwas gesund sein? Produkte werden so gelabelt, damit der Konsument verwirrt ist. Wenn ich in einen Supermarkt gehe, geht es mir mitunter genauso, ich müsste recherchieren, was in welchem Produkt steckt, obwohl ich über mich sagen würde, dass ich nicht schlecht in der Materie bin. Aber du hast auch im Supermarkt die Möglichkeiten, auf Bio-Produkte, also auf gute Lebensmittel, zurückzugreifen. Die sind dann aber vielleicht in Plastik verpackt, das ist immer so ein zweischneidiges Schwert, weil die Gurke mit Verpackung länger hält als ohne. Ich glaube, dass an der Stelle nicht alles schwarz-weiß ist, natürlich hast du auch im Supermarkt die Entscheidungsgewalt, was du einkaufst. Nur müssten wir den Menschen mal wieder beibringen, was überhaupt Essen ist.

 

Was ist besonders wichtig für gutes Essen?

Wenn ich mich heute umschaue, dann höre ich zu oft: „Kochen ist viel zu aufwendig.“ oder „Ich habe keine Zeit dafür.“ Du nimmst dir am Ende die Zeit für dich selbst. Du nimmst dir damit Zeit für deine Kinder. Natürlich haben viele einen stressigen Alltag, aber wenn du es dir nicht wert bist, für dich selbst zu kochen, sondern lieber etwas in die Mikrowelle tust, dann wirst du langfristig spüren, dass du diese Zeit verschwendet hast, von der du geglaubt hast, irgendwas damit abzukürzen. Diesen Gedanken müssten wir eigentlich schon in die Schulen oder sogar in die Kindergärten tragen, das ist eine Form von Fürsorge- und Bildungspflicht. Aber was passiert in den Schulen? Da hat dann ein Softdrink-Hersteller die Hand drauf, was dort angeboten wird. Eigentlich müsste der Staat dort eingreifen und das Essen zu hundert Prozent subventionieren.

 

Was erst mal Kosten verursacht.

Ja, aber diese Kosten kannst du dir gegenrechnen. Denn langfristig sparst du Kosten auf Seiten der Krankenkassen ein, weil wir weniger chronische Krankheiten hätten bei Kindern. Es müsste frisch gekocht werden, es müsste zu 100 Prozent bio sein und zu 80 Prozent pflanzlich, denn wir wissen, dass das besser ist. Dann würden Kinder auch wieder etwas Gesundes essen, was auch sehr gut schmecken kann. Das muss bezahlt werden vom Staat, damit jede soziale Schicht überhaupt die Möglichkeit hat, sich das auch zu leisten. So ein Verständnis gehört für mich zur Allgemeinbildung dazu. Wir müssen drei bis vier Mal am Tag essen und haben null Ahnung. Wir glauben heute noch, dass ein Nuss-Nougat-Aufstrich gesund sei. Ja, der schmeckt gut zum Frühstück, aber er ist nicht gesund. Von diesem Irrglauben muss man wegkommen. Das ist für mich Aufklärung. Aber es beginnt auch schon dort, wo man sich eigentlich auf der sicheren Seite wähnt: Eltern kaufen Obst und Gemüse aus kommerzieller Landwirtschaft, wo sehr viele Pestizide zum Einsatz kommen. Da glauben Eltern, dass sie etwas Gutes tun, aber wenn man es radikal formuliert, vergiften sie damit ihre Kinder.

 

Und jetzt bringst du ein Buch zum Thema „Vegetarisch“ heraus und trittst als Don Quichote gegen diese Lebensmittelindustrie an? Befürchtest du nicht den Fluch der guten Tat, dass dir mit dem Vorurteil begegnet wird, dass du ein Sterne- oder Haubenkoch bist und keine Ahnung davon hast, wie teuer es ist, für eine vierköpfige Familie zu kochen?

Bio-Produkte scheinen nur auf den ersten Blick viel teurer zu sein als konventionelle, weil einfach nicht aufrichtig gerechnet wird. Konventionelle Produkte „kosten“ uns viel mehr, weil bei der Produktion das Grundwasser vergiftet und viel mehr Energie verbraucht wird. Und es laufen an ganz anderer Stelle Kosten auf: nämlich dort, wo man diesen Schaden, der verursacht wird, wieder begradigen und aufarbeiten muss.


 

Zur Person

Paul Ivić (geboren am 16.08.1978 in Serfaus, Tirol) ist Sohn eines kroatischen Vaters und einer österreichischen Mutter. Nach seiner Ausbildung im Hotel Löwen in Serfaus waren weitere Stationen das Hotel Gasthof Post in Lech, das Hotel der Seehof in Salzburg und das Hotel & Ressort Schwielowsee in Werder an der Havel. Seit 2011 ist Ivić Küchenchef und Geschäftsführer des vegetarischen Restaurants Tian in Wien, das seit 2014 mit einem Michelinstern ausgezeichnet ist.

 

Paul Ivić Vegetarisch

400 Seiten | 39,95 €


Practise what you preach: Auf 400 Seiten zelebriert Ivić eine vegetarische Küche, die von alltagstauglich bis raffiniert alle Facetten abdeckt und mit 300 Rezepten jeden Geschmack treffen dürfte. Dabei hält er sein Versprechen ein, mit Warenkunde und Profiwissen seine Leser über das Verarbeiten der Lebensmittel hinaus zu unterstützen. Ein modernes Standardwerk für eine zeitgemäße und bewusste Küche.

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