Ano, wenn es nicht so makaber wäre, müsste man sagen: Die Fahrradbranche gehört zu den Gewinnern der Pandemie.
Erstmal ist die Situation für alle doof. Aber wir erkennen einen deutlichen Trend, dass die Leute an die frische Luft wollen – ob beim Spazierengehen oder eben mit dem Fahrrad. Wir waren im März 2020 noch für eine Videoproduktion in Frankreich und haben uns gewundert, wie viele Menschen mit dem Bike unterwegs waren. Das ist also ein globales Phänomen. Die Branche war schon vorher im Aufschwung, mit der Pandemie kam dann die Hypernachfrage – und gleichzeitig sind die Lieferketten zusammengebrochen.
Rechnest du damit, dass die Nachfrage auch nach Ende der Pandemie hoch bleiben wird?
Sicherlich sind in den vergangenen beiden Jahren schon viele Fahrräder in den Markt gekommen. Ich glaube aber nicht, dass das eine Blase ist, die irgendwann platzt. Denn wenn du dir ein neues schickes Fahrrad gekauft hast, ist alleine fahren ja auch langweilig. Also animierst du deinen Nachbarn: „Ey, ich hab’ mir so ein schickes Gravelbike gekauft, lass doch mal ’ne Runde drehen“. Der holt dann sein altes Trekkingrad aus der Garage – und du fährst ihm die ganze Zeit davon. Spätestens nach dem dritten Mal guckt der auch nach einem neuen Modell.
Welche großen Trends siehst du für dieses Jahr? Der größte Trend der jüngeren Vergangenheit ist sicherlich Gravel. Eigentlich ist es schon kein Trend mehr, sondern schon eine fest etablierte Sparte. Es ist auch super. Man kann mit einem Gravelbike ein unfassbar breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten abdecken. Deshalb ist das bei uns ziemlich abgegangen. Unser Modell heißt Backroad AL, was für Aluminium steht. Das ist heute noch mit mehreren Tausend Bestellungen im Rückstand. Aber auch die Backroad Carbon-Variante und Einstiegs-Rennräder und -Mountainbikes sind sehr nachgefragt. Gravel ist gekommen, um zu bleiben, und kein kurzfristiger Hype, der absehbar wieder abflaut.
Wie entwickelt sich das weiter? Ich bin fest davon überzeugt, dass Gravel Racing – also klassischer Rennradsport, nur eben auf Schotter – stärker Einzug halten wird. Zugleich werden auch sogenannte „Unsupported Bike Races“ noch beliebter werden. Das sind mehrtägige Rennen, bei denen man auf sich selbst gestellt ist, mit einem hohen Abenteuerfaktor.
Gravelbikes sind also für jeden etwas?
Klar, im Gravel kristallisieren sich unterschiedliche Dinge, die jeder gerne macht. Da gibt es Leute, die knallen mit ihrer Trainingsgruppe durch die Gegend, die fahren richtig schnell und hart. Auf der anderen Seite gibt es jene, die sich ihre Tasche packen und dann als Mini-Abenteuer eine Nacht im Wald verbringen.
Ein anderer großer Trend ist sicherlich die Elektrifizierung.
Ja, genau. Elektrifizierung macht vor keinem Bereich mehr halt. Die Oma-Tiefeinsteiger, die man draußen immer noch sieht, waren sozusagen die Speerspitze der E-Bikes. Inzwischen halten elektrifizierte Fahrräder in allen Segmenten Einzug.
Werden wir irgendwann alle nur noch E-Bikes fahren?
Nein, es wird beides weiterhin geben. Das Bio-Bike, das Push-Bike, das man selbst treten muss, wird es immer geben. Da geht es um die körperliche Anstrengung, wenn ich die Herausforderung will, wenn ich mich spüren und an meine Grenzen gehen will.
Dafür muss man allerdings trainieren.
Genau. Ich schüttele mir als untrainierter Bürostuhl-Attentäter und Familienvater nicht mal eben eine Hundert-Kilometer-Runde aus den Beinen. Fahrradtraining ist zeitintensiv. Und was man nicht vergessen darf: Erholung ist der unterschätzte Teil des Trainings. Wenn du sonntagmorgens drei Stunden mit deinen Jungs Rennradfahren gehst und danach wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf der Couch liegst, dann kannst du dir von deinem Kind und deiner Frau was anhören. (lacht) Mit einem E-Mountainbike warst du vielleicht auch zwei Stunden an der frischen Luft und hast dich bewegt, bist aber auch als nicht trainierter Mensch in der Lage, hinterher noch mit deinem Kind zu spielen.
Siehst du neben diesen langfristigen Trends noch andere neue Entwicklungen?
Wir merken, dass die Grenzen zwischen den Fahrradkategorien durchlässiger werden. Über das Gravel-Momentum sind viele Leute, die vorher Rennrad gefahren sind, jetzt auf den loseren Untergrund gekommen. Der Trend geht aber in beide Richtungen, wenn Mountainbiker auch mal so richtig schnell fahren wollen. Vor zehn Jahren waren das zwei komplett getrennte Welten. Die Rennradfahrer haben gesagt: „Die Mountainbiker mit ihren weiten Hosen, was für Affen!“ Und die Mountainbiker erwiderten: „Mit euren rasierten Beinen wollen wir nichts zu tun haben!“ Inzwischen herrscht eine neue Offenheit.
Hast du ein Lieblingsbike in eurem Programm?
Habe ich, aber das gibt es noch nicht. (lacht) Tatsächlich bin ich jetzt seit einigen Monaten auf einem Trail-Hardtail von uns unterwegs. Das kommt im April und wird richtig cool. Nach vielen Jahren auf dem Gravelbike habe ich damit wieder großen Spaß an schmalen Singletrails gefunden. Wenn man das Gefühl hat, alle Wege vor der eigenen Haustür schon abgegrast zu haben – und dann kommt ein neues Fahrrad, dann erblüht alles in einem neuen Glanz.
Gibt es sonst noch spannende neue Bikes, die dieses Jahr kommen?
Ende März kommt ein sehr minimalistisches elektrisches Urban Bike zu einem sehr attraktiven Preis. Das richtet sich an eine jüngere, trendbewusstere Zielgruppe. Ende des Sommers kommt dann eine ultrageile Kiste: Ein Stahl-Gravelbike mit Flatbar-Lenker und einem enormen Front-Rack. Der ist so groß, dass du genau eine Kiste Bier reinstellen kannst.
Zur Person
Anatol „Ano“ Sostmann ist Director Product & Brand bei ROSE Bikes, dem großen Fahrraddirektversender mit Sitz im nordrhein-westfälischen Bocholt. Der leidenschaftliche Biker, der auf verwinkelten Singletrails ebenso zuhause ist wie auf schnellen Rennradpassagen, freut sich auf einen warmen Sommer, das neue Stahlrad und die passende Kiste Bier.
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